Als erster Hersteller entwickelt die
Saab Automobile AB zurzeit ein einzigartiges Fahrer-Warnsystem, das die durch "menschliches Versagen" verursachten Unfall-Risiken in verschiedenen Bereichen reduzieren bzw. völlig ausschalten soll. Die Funktionsweise dieses Systems beruht auf den tatsächlichen und nicht auf den theoretisch richtigen Aktionen des Fahrers. Es unterstützt die Konzentration des Wagenlenkers auf den Straßenverkehr, indem es Kopf- und Augenbewegungen registriert und ein Warnsignal ertönen lässt, wenn der Fahrer offenbar abgelenkt ist und sich das Risiko eines Unfalles erhöht.
"Das andere Auto kam aus dem Nichts. Ich habe es einfach nicht gesehen!" – So oder ähnlich klingen oft Aussagen von Autofahrern nach einem Unfall oder einem Beinahe-Unfall. Tatsächlich geben sie damit jedoch zu, dass sie für einen kurzen Augenblick (oder auch länger) vom Straßenverkehr abgelenkt waren.
Diese Erfahrung macht jeder Fahrer immer wieder einmal – und das ist ganz normal, denn Autofahrer sind auch nur Menschen, die auf die unterschiedlichste Art und Weise abgelenkt werden: Man sucht in den verschiedenen Ablagen nach der Lieblings-CD, betrachtet ein Werbeplakat ein bisschen zu lange, will schnell eine wichtige Information notieren, macht "einen langen Hals" beim Passieren einer Unfallstelle oder sucht in einer fremden Gegend eine bestimmte Hausnummer. Wenn man sich vor Augen hält, dass ein Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit von 90 km/h fünfundzwanzig Meter in nur einer Sekunde zurücklegt, werden die potenziell fatalen Auswirkungen einer auch noch so kurzen Konzentrationsschwäche offensichtlich.
Auch Bremstests unterstreichen, wie wichtig die volle Konzentration auf den Straßenverkehr ist, um in einer kritischen Situation schnellstmöglich die richtige Maßnahme einleiten zu können: Viele Fahrzeuge legen bei einer Vollbremsung von 100 km/h auf null noch immer einen Bremsweg von deutlich über 40 Metern zurück – und schon bevor das Bremspedal überhaupt getreten wurde, verstreichen wichtige Sekundenbruchteile, die den kompletten Anhalteweg von der Wahrnehmung der kritischen Situation bis zum Fahrzeugstillstand zusätzlich verlängern.
Kameras beobachten Kopf und Augen
Beim Fahrer-Warnsystem von Saab werden im Fahrzeug zwei Infrarot-MINIkameras installiert. Sie registrieren die Kopf- und Augenbewegungen des Fahrers. Sobald der Fahrer seinen Blick aus dem von Saab so bezeichneten "Hauptaufmerksamkeitsbereich" – der Mitte der Windschutzscheibe direkt vor dem Fahrer – abschweifen lässt, wird ein zeitlicher Countdown gestartet: Kehren die Augen und der Kopf des Fahrers nach zwei Sekunden nicht wieder in die optimale "Geradeaus-Richtung" zurück, ertönt ein akustisches Signal. Sollte daraufhin immer noch keine Reaktion erfolgen, löst das elektronische Stabilitätsprogramm (ESP) einen Bremsbefehl aus.
Auswertung und Verarbeitung des Infrarotbilds beruhen unter anderem auf dem Verhältnis zwischen Blickrichtung und Kopfbewegung: Das System arbeitet präzise genug, um zu erkennen, ob der Fahrer die Straße noch immer im Blickwinkel hat, wenn er zum Beispiel in den Rückspiegel schaut oder um eine Kurve fährt. In so einem Fall ertönt das Warnsignal mit einer entsprechenden Verzögerung. Außerdem misst die Software die Geschwindigkeit. So kann das Fahrer-Warnsystem von Saab zwischen einer Fahrt im Innenstadtverkehr und einer Fahrt auf freier Autobahn mit höherer Geschwindigkeit unterscheiden.
Bei langsameren Geschwindigkeiten – zum Beispiel im Innenstadtbereich – ist das Aufmerksamkeitsfenster des Fahrers größer: Er kann zwar seinen Kopf mehr bewegen, allerdings ist dafür der "Zeitpuffer" bis zum Ertönen des Warnsignals kürzer. Bei höheren Geschwindigkeiten verkleinert sich das Aufmerksamkeitsfenster, während der Zeitpuffer aufgrund der geringeren Verkehrsdichte länger ist. Zur weiteren Differenzierung zwischen verschiedenen Verkehrsbedingungen lässt sich das Fahrer-Warnsystem auch mit dem Satellitennavigationssystem (GPS) verknüpfen. In der Nähe von Schulen oder Krankenhäusern würde der Zeitpuffer kurzzeitig auf "null Toleranz" gesetzt.
Das Infrarot-Verfahren wurde gewählt, weil es unabhängig von den herrschenden Lichtbedingungen ein klares Bild erzeugt. Momentan ist eine 9-3 Sport-Limousine als Testwagen und Entwicklungsmodell mit zwei Kameras bestückt, die in höchster Präzision jeweils am Fuß der fahrerseitigen A-Säule und in der Mitte des Armaturenbretts verbaut sind. In der Serie wären diese extrem kleinen MINIkameras vollständig hinter der Verkleidung des Armaturenbretts verborgen.
Autofahrer stehen unter starker Belastung
"Zweifelsohne stehen Autofahrer heutzutage wegen der zunehmenden Verkehrsdichte und der immer umfangreicheren Infotainment-Ausstattung im Fahrzeug unter wachsender Belastung", erläutert Arne Nåbo, Chefergonom bei Saab und verantwortlich für die Entwicklung des Fahrer-Warnsystems. Und weiter: "Bislang haben Saab und auch andere Hersteller daran gearbeitet, den Informationsfluss, dem der Fahrer ausgesetzt ist, auf die sicherste Weise zu steuern. Jetzt ist es unserer Meinung nach Zeit für ein weniger passives Vorgehen. Leider schauen die Menschen beim Autofahren im Alltag nun mal häufig nicht auf die Straße – das wissen wir. Jetzt sind wir dabei, ein System zu entwickeln, das dem Autofahrer Hilfe zur Selbsthilfe bietet."
"Dieses System trägt zur Vermeidung einer gefährlichen Angewohnheit bei, die wir ‚kognitive Tunnelsicht‘ nennen", so Nåbo weiter. "Wenn der Fahrer zum Beispiel einen Straßenatlas aufgeschlagen auf dem Beifahrersitz liegen hat und seine Augen ständig zwischen der Karte und der Straße hin und her wandern. Letzten Endes beschäftigt sich der Fahrer nur noch mit dem Straßenatlas und ist dadurch einfach zu lange abgelenkt. Genau das meinen wir, wenn wir von "Tunnelsicht" sprechen – ob man nun die Stationseinstellungen fürs Radio programmiert oder im Stau Zeitung liest."
System bietet großes Potenzial
Außer der eigentlichen Fahrsicherheitsfunktion bietet die neue Technologie noch weiteres Potenzial – zum Beispiel:
Fahrerwarnung: Das System registriert die Bewegungen der Augenlider und der Augen und erkennt anhand der Häufigkeit und Länge des Blinzelns eine beginnende Ermüdung.
Automatikeinstellung im Fahrzeug: Durch eine Infrarot-Aufnahme des einzigartigen menschlichen Gesichts könnte das "Abbild" einer Person für ein bestimmtes Fahrzeug gespeichert werden. Sobald der Fahrer sich gesetzt hat, würden sich die Sitze, das Lenkrad und die Spiegel automatisch auf ihn einstellen. Und das gilt auch für Details wie Radiostationen oder die Einstellung der Temperatur sowie des Lüftungsstroms.
"Smarte" Airbag-Auslösung: Bei einem schweren Zusammenstoß könnte im Moment des Aufpralls die Füllgeschwindigkeit des Airbags genau auf die Position des Kopfes des Fahrers und dessen Nähe zum Lenkrad abgestimmt werden.
Die Spezialisten von Saab arbeiten unermüdlich an der MINImierung des Ablenkungspotenzials für den Fahrer. Zur ComSense-Unfallsicherheitsstrategie der schwedischen Premiummarke gehört auch ein "dynamischer Belastungsmanager", der 1997 mit der Saab 9-5 Limousine der ersten Generation vorgestellt wurde. Dieses Feature ermöglicht die kurzzeitige Unterdrückung von Warnanzeigen am Armaturenbrett oder fängt einen eingehenden Anruf ab, wenn durch das Betätigen der Fahrtrichtungsanzeiger oder durch heftiges Bremsen eine hohe Fahrerbelastung erkannt wird.
Ganz im Sinne der ComSense-Philosophie setzt Saab bei Nacht auch auf grüne anstatt rote Instrumentenbeleuchtung. Forscher haben festgestellt: Die Farbe Grün wirkt beruhigender und weniger ablenkend. Das "Night Panel"-Feature in Saab Fahrzeugen reduziert das Ablenkungspotenzial für den Fahrer auf ein MINImum, da er bei Dunkelheit die Beleuchtung aller Hauptinstrumente mit Ausnahme des Tachometers ausschalten beziehungsweise abdunkeln kann. Des Weiteren tragen ins Lenkrad integrierte Bedienelemente für das Audiosystem und das Telefon sowie das Spracheingabeprogramm dazu bei, dass der Fahrer sich auf die Straße konzentrieren kann.
Das Fahrer-Warnsystem von Saab könnte der nächste technische Schritt der ComSense-Strategie sein und wird als logische Fortsetzung des traditionellen "Realansatzes" bei den Unfallsicherheitssystemen des Herstellers gesehen. So wie der Aufprallschutz durch die Analyse von Realunfällen auf echten Straßen optimiert wird, soll das Fahrer-Warnsystem auf das reale, das "wirkliche" Verhalten am Steuer unter Alltagsbedingungen abgestimmt werden.
"In unseren Versuchen arbeitet das System ausgesprochen gut", erklärt Projektleiter Nåbo. "Außerdem bereitet die zuverlässige und relativ preisgünstige Hardware keinerlei Probleme. Zurzeit stimmen wir den Einsatzmoment des Summtons genau ab und überlegen uns, welcher Art das letzte Warnsignal sein soll. Im Moment ist ein Bremsimpuls ohne Aufleuchten der rückwärtigen Bremslichter der Favorit."
Die Programmierung und Datenverarbeitung wurde von Saab gemeinsam mit der auf optische Systeme spezialisierten Firma SmartEye AB mit Sitz in Göteborg vorgenommen. Auch wenn noch keine Entscheidung zur Serienproduktion des Fahrer-Warnsystems gefallen ist, hat Saab durch Versuche und Analysen bereits die Machbarkeit und Effizienz des Systems nachgewiesen. Arne Nåbo: "Vielleicht wird diese Technologie eines Tages in unseren Fahrzeugen genauso normal sein wie ein Tempomat oder die Klimaautomatik."