Ein Besuch im Informations- und Veranstaltungszentrum von Michelin gleicht einer Zeitreise: Seltene Exponate dokumentieren den Weg des luftgefüllten Reifens und seine riesigen Technologiesprünge von der Frühzeit des Automobilbaus über die Anfänge der Massenmotorisierung bis zu den heutigen Hightech-Walzen. Und spätestens auf dieser Reise wird klar: Die Historie von Michelin war und ist vor allem eine Geschichte bahnbrechender Rennsporterfolge.
Willkommen im "Centre Information et de Rencontre Michelin" in der Rue Mont Losier in Clermont-Ferrand. Das schmucke Infozentrum befindet sich nur wenige Meter oberhalb der Zentrale des heutigen Weltkonzerns, vor deren Portal sich heute ein tropisches Gewächshaus mit Gummibäumen aus aller Welt befindet. Ebenso nah liegt einige Minuten die Straße hinauf die historische Altstadt der Auvergne-Hauptstadt.
Eine lange Geschichte verbindet Michelin mit diesem Ort – wenn auch nicht ganz so lang, wie im Asterix-Band "Der Avernerschild" angedeutet, wo ein Römer bereits um 50 vor Christus in Nemossus (Clermont-Ferrand) Räder herstellt. In Wirklichkeit produziert die Familie Michelin im Avernerland "erst" seit 1889 Reifen – und Ideen.
Alles begann mit einem verzweifelten britischen Touristen, der in jenem Jahr wegen einer Reifenpanne die Brüder André und Edouard Michelin konsultierte, die in Clermont-Ferrand Kautschuk-Produkte für Haus und Hof herstellten. Die beiden flickten den Pneu, der Engländer setzte seine persönliche "Tour de France" fort und die Michelin-Brüder hatten einen neuen, zukunftsträchtigen Geschäftszweig entdeckt: die Entwicklung und Fertigung von luftgefüllten Reifen für Fahrzeuge aller Art. Edouard hatte die stundenlange Reparaturzeit des Briten-Pneu keine Ruhe gelassen. Er tüftelte und versuchte, bis er den abnehmbaren Reifen erfand, der in wenigen Minuten zu reparieren oder zu ersetzen war.
"Der Rennsport gehörte von Anfang an untrennbar zum Unternehmen", betont Pajo Pavlic, der pro Jahr an die 11.000 Besucher durch das zweigeschossige Werksmuseum führt. "Schon 1893 nahmen sie für die Wettfahrt Paris-Brest-Paris den Radrennfahrer Charles Terront unter Vertrag", fährt der gebürtige Kroate fort. "Als einziger verwendete er die von Michelin erfundenen demontierbaren Reifen. Er gewann nach 71 Stunden Nonstop-Fahrt mit acht Stunden Vorsprung."
Zu ihrem ersten Autorennen traten die Brüder am 11. Juni 1895 auf einem selbst entwickelten hochrädrigen Gefährt namens "L‘Eclair" an, dem weltweit ersten mit Luftreifen ausgerüsteten Automobil. Sie erreichten das Ziel der Fahrt Paris-Bordeaux-Paris souverän. "Ein Wechsel der Michelin-Pneus dauerte bloß drei bis fünf Minuten, während die Konkurrenz immer eine Viertelstunde lang schrauben musste", erklärt Pavlic den Erfolg der Averner.
Die Michelins hatten den Motorsport als Marketinginstrument entdeckt – und veranstalteten in der Folge sogar selbst Autorennen, wie jenes von Paris nach Clermont-Ferrand, bei dem sie zur Demonstration der Haltbarkeit ihrer eigenen Produkte auch mal eine Handvoll Nägel auf der Strecke verteilten. Das erste internationale Rennen Paris-Amsterdam-Paris 1898 stand sinnbildlich für die bis heute gültige Firmenphilosophie: Dass der Motorsport zu Michelin gehört und das Unternehmen weltweit antritt.
Mit dem auf Michelin-Pneus rollenden Elektroauto "La jamais contente" ("Die niemals Zufriedene2") erzielte der legendäre Rennfahrer Camille Jénatzy 1899 erstmals eine Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h. Im Jahr darauf startete erstmals eine Frau bei einem Rennen – auf Reifen von Michelin. Ein besonderes Highlight stellte der seit 1900 ausgetragene Coupe Gordon Bennett dar, bei dem Auto, Pilot und Reifen jeweils aus demselben Land stammen mussten. Frankreich siegte mit Michelin dank der selteneren und schnellen Reifenwechsel – auch 1905 bei der letzten Ausgabe auf dem Circuit d’Auvergne vor den Toren der Bibendum-Heimatstadt (nicht zu verwechseln mit dem späteren Formel 1-Kurs von Clermont-Ferrand).
Heute erinnern teils witzige, teils atemberaubende Ausstellungsstücke an diese Pionierzeit des Autorennsports: etwa die Reifen mit einem "M" im Profil, damit jeder Michelin-Fahrer auf den lehmigen oder staubigen Straßen einen bleibenden Eindruck hinterließ. Oder die geniale Luftpumpe für Wüstenexkursionen von 1908, die bei Luftverlust in ein Zündkerzenloch geschraubt wurde und – durch die Kompression des Motors angetrieben – wieder Luft in den Pneu pumpte. Sehenswert sind auch die Jugendstil-Kachelreliefs aus dem Londoner Michelin-Haus. Besonders skurril wirkt eine Auswahl von Irrwegen der frühen Wettbewerber, die die empfindlichen Gummi-Decken ihrer Reifen mit Bezügen aus Leder, Hanfstricken, eisernen Beschlägen oder sonstigen Materialien zu schützen versuchten – und doch gegen Michelin verloren.
Ein Trip durch die Michelin-Historie wäre nicht vollständig ohne einen Halt an dem historischen Wegweiser von 1912 im Werks-Museum. Die Förderung der allgemeinen Mobilität lag den genialen Brüdern nämlich genauso am Herzen wie die Weiterentwicklung ihrer Produkte. So führten sie 1911/12 eine Volksbefragung durch und überreichten dem Staatspräsidenten 200.000 Unterschriften von Bürgern, die den Michelin-Vorschlag unterstützten, Frankreichs Straßen zur besseren Orientierung zu nummerieren. Nur zwei Monate später standen die ersten steinernen Hinweise an Straßen wie der durch Clermont-Ferrand führenden N189 oder der D2. Kurz darauf legte das Unternehmen erste Straßenkarten auf. Sie wurden an öffentlichen Plätzen in gläsernen Kartenspendern angeboten, von denen einer im Michelin-Museum zu bewundern ist. Der erste der berühmten Guides Michelin – mit einem Verzeichnis von Tankstellen und Übernachtungsmöglichkeiten für Automobilisten auf Reisen – stammt gar von 1900.
Interessant ist dabei die Arbeitsteilung der beiden Firmengründer: Edouard, der Künstler, war für die technische Entwicklung verantwortlich, André, der Ingenieur, kümmerte sich um Werbung und Marketing. "Bis heute ermöglicht Michelin ganz bewusst immer wieder Karrieren abseits des erlernten Berufes", bestätigt Museumsleiter Pajo Pavlic.
Weiter geht die Tour entlang technischer Meilensteine: Aus dem Jahr 1917 stammt der erste schwarze Reifen – die Beimischung von Ruß machte die bis dahin hellbeigen Pneus widerstandsfähiger. Ein Kompressor mit kunstvoll gestalteter Bibendum-Figur auf dem Druckbehälter erinnert an die Einführung des Niedrigdruckreifens. "Ab 1923 wiesen die Pneus sichere drei statt gefährlicher zehn bis zwölf bar Druck auf", erläutert Pavlic. Knapp daneben steht ein Querschnitt durch Reifen und Felge mit Stützring. Ein modernes PAX-System von 2002? Im Prinzip schon, nur dass dieses Exponat bereits 1930 die Idee der Notlaufeigenschaften umsetzte.
Zu den spektakulärsten Ausstellungsstücken zählt sicherlich der Citroën Traction Avant mit Messgeräten, verstellbarer Spur und variablem Sturz an der Hinterachse. 1946 wurde auf diesem Fahrzeug der Radialreifen entwickelt, die größte Erfindung des Unternehmens oder gar der gesamten Reifen-Historie. Sicherheit, Komfort und Laufleistung erreichten mit der Radial-Bauweise neue Dimensionen.
Auch im Rennsport bedeutete der radial gewickelte Pneu eine Revolution. 1951 schaffte Michelin mit einem auf Radialstraßenreifen rollenden Lancia Aurelia den ersten Le Mans-Klassensieg. Die Motorrad-Rennfraktion wechselte deutlich später auf Radialreifen – doch Michelin siegte auch hier an der Seite der Größten. Als Leckerbissen für Motorrad-Fans steht eine von Freddie Spencers Honda-Rennmaschinen – mit der "Fast Freddie" 1983 und 1985 zwei 500ccm-WM-Titel einfuhr – in der Ausstellung. Das Forschungsfahrzeug Mercedes-Benz C111-IV glühte 1979 auf Michelin TRX mit 403,9 km/h durch die Steilkurven von Nardo und stellte einen Diesel-Weltrekord auf. 1977 schließlich war die Zeit reif für das Debüt von Michelin in der Formel 1. Im Michelin-Museum ruht eine der ersten Walzen, auf denen die bahnbrechenden Turbo-Renault rollten, und markiert stilgerecht den Abschluss des atemlosen Retro-Trips durch Racing und Rekorde.
Das Informationszentrum von Michelin ist für Einzelpersonen und Gruppen nach Anmeldung zu besichtigen. Führung und Beschriftung in französischer oder englischer Sprache. Kontakt: Pajo Pavlic, Tel. +33 (0) 4 73 32 72 34, Fax +33 (0) 4 73 32 69 78, Email Pajo.Pavlic@fr.michelin.com oder über Jan Hennen (Jan.Hennen@de.michelin.com).