Die Gewinnungsindustrie rund um den Globus steht derzeit auf schwachen Füßen. Nicht etwa, weil es an Aufträgen mangeln würde – im Gegenteil: Die weltweite Nachfrage nach Rohstoffen hat in den letzten Jahren rapide zugenommen, die Auftragsbücher der Unternehmen vor allem in Amerika und Asien sind voll. Doch es fehlen Reifen. Radlader, Muldenkipper und andere Erdbewegungsmaschinen werden immer häufiger mit Holzbandagen an den Felgen ausgeliefert, weil keine passenden Reifen verfügbar sind. Betreiber von Minen und Steinbrüchen gehen aufgrund des Notstandes bei den Maschinenherstellern dazu über, sich neue Pneus über den Reifenhandel zu besorgen, sofern der angesichts leerer Lagerhallen überhaupt aushelfen kann. Bis dahin stehen die Maschinen auf "Clogs", wie in der Branche gewitzelt wird, und warten auf ihren Einsatz. Dabei können schon mal einige Wochen ins Land ziehen.
Auslöser für die aktuelle Versorgungskrise bei den so genannten OTR-Reifen für Bau- und Industriemaschinen ist das weltweite Wirtschaftswachstum, das vor allem durch die dynamisch expandierende chinesische Volkswirtschaft getrieben wird. Für den in Fahrt gekommenen Industrialisierungsprozess werden Unmengen von Stahl, Kupfer, AluMINIum, Zink, Blei sowie Nickel benötigt. Mit Wachstumsraten von durchschnittlich 9,1 bis 9,5 Prozent in den Jahren 2003 bis 2005 (erstes Halbjahr) hat China entscheidenden Anteil an der schlagartig zunehmenden Rohstoffnachfrage, der chinesische Anteil am globalen Wachstum beträgt rund ein Drittel.
Vom Nachfrage-Boom überrascht
"Alle Reifenhersteller sind vom Nachfrage-Boom überrascht worden", sagt Volker Aßmann, Vertriebs- und Marketingleiter für OTR-Reifen bei Goodyear, "die weltweite Nachfrage nach Industriereifen ist heute um mindestens 30 Prozent höher als im Vorjahr." Keine Spur mehr vom Preisdruck der vergangenen Jahre, schlagartig hat sich die Lage verändert. Dabei gingen alle Beteiligten noch von vorübergehenden Lieferengpässen aus, als OTR-Reifen Ende 2004 erstmals knapper wurden. Aber der rasch wachsende Bedarf an Bergbauprodukten und anderen Rohstoffen sorgte dafür, dass immer mehr Maschinen produziert wurden, und dass sogar still gelegte Bergwerke samt zugehörigen Maschinenparks wiederbelebt wurden, die nun dringend auf neue Reifen angewiesen sind. Laut Einschätzung von Volker Aßmann wird dieser Boom noch im nächsten Jahr andauern. "Danach rechnen wir mit einer Entspannung der Situation." Nicht zuletzt deshalb, weil die Reifenhersteller daran gehen, ihre Produktionskapazitäten in diesem Bereich zu optimieren oder auszuweiten. "Wir produzieren rund um die Uhr unter Hochdruck", so Aßmann.
Kurzfristig ist jedoch keine Besserung in Sicht, die Lage bleibt prekär. "Bei einigen wichtigen Reifentypen sind wir bis zum Jahresende nicht mehr in der Lage nachzuliefern", erläutert Aßmann. Anderen Reifenherstellern geht es keinen Deut besser. Sowohl Maschinenbauer als auch Großkonzerne in der Gewinnungsindustrie rechnen aufgrund der anhaltenden Lieferschwierigkeiten mit Einschnitten beim Umsatz. Einzelne Bestellungen von Radladern oder Baggern können jetzt schon nicht ausgeführt werden. "Wir müssen prüfen, wofür Reifen vorhanden sind", so Hans-Joachim Erdmann, beim Baumaschinenhersteller CNH verantwortlich für den Vertrieb in Zentraleuropa. Und auch die großen internationalen Bergbauunternehmen sehen ihre Produktionsziele gefährdet. "Um unsere Fördermenge weiter zu erhöhen, benötigten wir dringend mehr Reifen", erklärt Murray Arcaro, Manager für den Maschinenpark beim kanadischen Unternehmen Georgian Aggregates and Construction in Collingwood, ontario. Arcaro geht inzwischen dazu über, den Markt systematisch nach verfügbaren Reifen abzusuchen und anschließend auf Vorrat zu kaufen, um seine Fahrzeuge auf diese Weise einsatzfähig zu halten.
Steigende Rohstoffpreise
Verschärfend hinzu kommt, dass der Druck auf die Rohstoffpreise, insbesondere beim Erdöl, natürlich auch an der Reifenindustrie nicht spurlos vorübergegangen ist. In Verbindung mit dem starken Nachfrageüberhang hat das in den vergangenen Monaten zu einem deutlichen Anstieg der Preise bei OTR-Reifen geführt – eine Entwicklung, die sich vermutlich weiter fortsetzen wird.
Angesichts dieser Rahmenbedingungen sind neue Verhaltensweisen gefragt. Garry Shaheen, Präsident der Caterpillar-Gruppe, erprobt derzeit in seinem Konzern eine Reihe von Alternativen. "Wo keine Radialreifen verfügbar sind, setzen wir auch wieder Diagonalreifen ein", so Shaheen, "darüber hinaus haben wir neue Bezugsquellen erschlossen, unsere Lagerbestände erhöht und denken in Teilbereichen auch über Runderneuerung nach." In der Gewinnungsindustrie kommen derweil auch Reifen zum Einsatz, die eigentlich den AnForderungen nicht entsprechen. Murray Arcaro: "Für unsere Arbeitsmaschinen benötigen wir eigentlich E4-Reifen, müssen sie aber aktuell mit E-3-Pneus ausrüsten. Das funktioniert leidlich, aber die Lebensdauer ist natürlich geringer".
Die großen Reifenhersteller haben in dieser Situation eine Beratungsoffensive gestartet. Sie empfehlen ihren Kunden gleich eine ganze Reihe von Maßnahmen, um gut durch die nächsten Monate zu kommen. Das reicht von der sorgfältigen Reifenwartung, über eine vorausschauende Lagerhaltung und variables Einkaufverhalten mit Blick auf die Reifenspezifikationen bis hin zur Konstruktion und Pflege von Transportwegen im Bergbau.
Tipps für ein langes Reifenleben
Wichtigste Stellschraube, um ein Reifenleben auch im OTR-Bereich bis zu 30 Prozent zu verlängern, ist nach wie vor die regelmäßige Kontrolle des Luftdrucks, Volker Aßmann: "Am besten täglich." Sein zweiter Tipp für ein langes Reifenleben: "Achten Sie auf Ventilschutzvorrichtungen sowie den Einsatz von Ventilkappen. Sie versiegeln nicht nur die Ventile, sondern halten auch den Dreck draußen, der sonst zu Beschädigungen führen kann." Fehler werden zu häufig auch beim Reifenwechsel gemacht, der bei großen Erdbewegungsmaschinen einigen Aufwand und noch mehr Know-how erFordert. Aßmann: "Im Prinzip ist der Reifen ein Drucksystem, das durch Felgen und Ventil abgeschlossen wird. Bei mehrteiligen Felgen, wie sie für OTR-Reifen eingesetzt werden, ist es daher besonders wichtig, mit jedem Reifenwechsel auch neue O-Ringe zu verwenden und das Ventil zu erneuern."
In Steinbrüchen sind Einfahrverletzungen durch Steine und Überlastschäden die häufigsten Ursachen für vorzeitigen Reifenverschleiß. Daher lohnt die Anlage von Transportwegen mit möglichst geringem Gefälle und ebenem Untergrund. Außerdem sollten alle Wege regelmäßig gereinigt und von verschüttetem Abbruchmaterial befreit werden. Überlastung und die daraus entstehenden Walkschäden oder Reifenbrüche lassen sich durch die richtige Art der Zuladung vermeiden, beispielsweise durch eine gleichmäßige Verteilung des Ladeguts in den Mulden der Transportmaschinen.
Schlechte Zeiten für Exoten
Beim Einkauf von OTR-Reifen sind vorausschauendes Handeln, Flexibilität und auch Akzeptanz von Ersatzdimensionen gefragt. "Wir haben unsere Produktion angepasst und die Variantenvielfalt reduziert, um die Lieferfähigkeit bei den wichtigsten Ausführungen zu erhöhen", erläutert Aßmann einen Weg der Reifenhersteller, um die Produktion effektiver zu machen. Das bedeutet: schlechte Zeiten für die Exoten unter den Reifen für Bau- und Industriemaschinen.
Ein weiteres probates Mittel, um Leerzeiten im Maschinenpark zu vermeiden, ist die langfristige Bedarfsplanung. Goodyear nutzt hier sein enormes Know-how in der Materialwirtschaft und setzt ausgeklügelte, global greifende Allokationsprogramme ein, die sowohl die Erstausrüstung als auch den Handel einschließen.
Wie lange genau die derzeitige Reifenknappheit noch andauert, wagt niemand mit Bestimmtheit zu sagen. Nur eines steht fest: Die Nachfrage hat sich vorerst auf einem Niveau eingependelt, das wohl noch einige Zeit hoch bleiben wird.