Es ist eine doppelte Premiere, die am 14. Juli 1965 in Wörth am Rhein stattfindet. Im neuen Werk Wörth rollt nicht nur der erste dort komplett montierte Lkw blumengeschmückt und im Beisein der Werkleitung vom Band. Zugleich vollzieht sich mit dem Einstand des
Mercedes-Benz LP 608 der Einstieg in die leichte Klasse, mit dem Daimler-Benz einen großen Schritt auf dem Weg zum Vollsortimenter vorankommt.
In beiderlei Hinsicht gelingt die Sache außerordentlich gut: Der Frontlenker LP 608 erreicht in seiner Klasse schon im Lauf der ersten zwei Produktionsjahre mit insgesamt 10.000 produzierten Einheiten einen Marktanteil von stolzen 45 Prozent. Die von ihm begründete Klasse der leichten LP-Lastwagen bis hin zum LP 1113 soll gar gut 20 Jahre Bestand haben und insgesamt eine Stückzahl von rund 200.000 Einheiten erzielen.
Binnen kurzem das größte Lkw-Werk Europas
Das Werk Wörth wiederum entwickelt sich in den Folgejahren als die zentrale europäische Produktionsstätte für Lkw binnen kurzer Zeit zum größten Lkw-Werk Europas und nimmt diesen Rang mit einer Produktionsbilanz, die sich sehen lassen kann, auch heute noch ein: nahezu drei Millionen Lkw hat das Werk Wörth seit Juli 1965 bis auf den heutigen Tag gefertigt.
Angefangen hat alles viel kleiner und mit einer Belegschaft von nicht mehr als 100 Mann. Am 01. Oktober 1963 schon begann in Wörth die Produktion von Lkw-Fahrerhäusern. Doch lieferte Wörth die grundierten Rohbauten damals noch zur Weiterbearbeitung an die klassischen Standorte Gaggenau (schwere Lkw) und Mannheim (mittlere Lkw). Auf gut 22.000 Rohkabinen bringt es Wörth im ersten Jahr. Ab Dezember 1964 kümmert sich das neue Werk zudem auch um Innenausbau und Fertiglackierung: Die Kabinen des Baumusters 314 machen den Anfang in solch höherer Fertigungstiefe.
Zentrale Lage zwischen Mannheim und Gaggenau
Schon geografisch ist Wörth dafür prädestiniert, die Rolle eines zentralen Werks zu übernehmen. Der neue Standort, gelegentlich auch als Wörther Insel bezeichnet, liegt ideal zwischen den beiden Werken Gaggenau und Mannheim, die zu Zeiten des Wirtschaftswunders mit einer jährlichen Kapazität von zusammen maximal 40.000 Lastwagen bereits an ihre Kapazitätsgrenzen gelangen. Das neue Werk, auf einer ehemaligen Flussschleife des Rheins gelegen, soll die Engpässe beheben. Der erste Spatenstich auf dem 1,5 Millionen Quadratkilometer großen Gelände geschieht im März 1962.
Anfangs ist noch gar nicht abzusehen, welch gewaltige Entwicklung auf dem anno 1960 von der Gemeinde Wörth gekauften Gelände ihren Lauf nehmen wird. An mehr als ein Motorenwerk ist zu Beginn gar nicht gedacht. Doch ordnet Daimler-Benz die Fertigungsstruktur bereits im Jahr 1963 neu. Konzentriert die Produktion der Motoren und der Omnibusse in Mannheim, fokussiert Gaggenau auf den Unimog sowie Achsen und Getriebe.
Erst 1964 aber fällt die endgültige Entscheidung, die gesamte Produktion und Endmontage der Lkw auf Wörth zu vereinen. Die weitere Arbeitsteilung des Konzerns sieht seinerzeit folgendermaßen aus: Mannheim fertigt nicht nur weiterhin die Lkw-Motoren, sondern behält auch die Busproduktion. Düsseldorf nimmt sich aller Transportermodelle bis vier Tonnen an (später dann bis sechs Tonnen). Berlin montiert komplette Motoren für Pkws, Lkws sowie für die Industrie und liefert Fahrzeugteile. Sindelfingen fertigt Pkw und Untertürkheim produziert Motoren verschiedenster Art.
Volle Auslastung bereits 1969 erreicht
Konzipiert ist das Werk Wörth in seinen Anfangszeiten für eine Jahreskapazität von 48.000 Lkw. Diese Zahl ist dann schon im Jahr 1969 erreicht. Es geht trotz der ersten kleinen Nachkriegsrezession anno 1966/67 bald Schlag auf Schlag: 800 Lkw verlassen die Fabrik noch anno 1965, schon zum Jahresende ist die Produktion des LP 608 komplett von Mannheim nach Wörth verlegt. Ab 1966 beginnt die Fertigung der mittelschweren Lkw und des CKD-Versands (Completely knocked down) in alle Welt.
Verwaltungsgebäude, Lehrwerkstatt und Kantine geben dem neuen Werk allmählich seine Kontur, deren zentrales Element aber die neue Montagehalle bildet: Mit 750 Meter Länge (heute auf 1000 Meter erweitert) und 50 Meter Breite zählt sie zu den größten Montagehallen im Fahrzeugbau weltweit. Dass beide Baureihen über ein Band laufen, gilt damals zwar noch als Handikap, soll sich aber im weiteren als Segen erweisen. Die Fertigung ist von Beginn an äußerst flexibel. Namen tragen die Lkw damals noch nicht, die gängigen Bezeichnungen "leichte Wörther" sowie "schwere Wörther" verweisen aber durchaus auf deren Ursprung.
100.000 Einheiten jährlich lautet das nächste Ziel
Schrittweise erhöht Daimler-Benz die Kapazität des Werks ab 1969. 100.000 Einheiten jährlich lautet das Ziel. Zwei Mal wächst die Fabrik, bis diese Vorgabe mit exakt 105.200 Einheiten im Jahr 1975 erfüllt ist. Längst hat Daimler-Benz zu dieser Zeit auch schon das Ersatzteilwesen aus Gaggenau und Mannheim abgezogen und im 1972 in Betrieb genommenen zentralen Ersatzteillager Wörth konzentriert. Ab 1973 fertigt Wörth die strikt nach Baukastensystem konzipierten schweren Fahrzeuge der Neuen Generation. Zehn Jahre nach Produktionsbeginn verlässt der 500.000ste Lkw das Werk, sind bereits knapp 8.700 Mitarbeiter auf der Rheininsel beschäftigt.
Der Anteil von Kunststoffkomponenten im Fahrzeugbau steigt derweil ständig. So ist nur logisch, dass sich Wörth auch um diesen Sektor kümmert. Der Kunststoffverarbeiter bereichert das Spektrum der im Werk vertretenen Berufe um eine weitere Variante, fertigt Wörth ab 1977 doch auch Kunststoffteile für Pkw und Lkw zugleich. Auch die Produktion von Pkw-Schaumteilen wandert von Sindelfingen nach Wörth.
In den 80er Jahren wird aus der Neuen Generation die NG 80 und tritt auch die dienstälteste Wörther Fahrzeuggeneration ab: Aus den leichten LP wird ab 1984 die LK-Baureihe (Leichte Klasse), die von 6,5 bis 13,0 Tonnen Gesamtgewicht reicht und dieses Segment mit zehn Mercedes-Benz Grundtypen vom 709 bis hin zum 1320 bestreicht. Schräge Seitenfenster wie erstmals bei den TN-Transportern praktiziert sind das optische Erkennungsmerkmal dieser neuen Reihe.
Vier Jahre später löst mit ebenfalls schräg ausgeführten Seitenscheiben die legendäre SK-Baureihe die NG 80-Fahrzeuge in der schweren Klasse ab und wird sich als Enkel der Neuen Generation bis zum Jahr 1996 halten. In dieser Zeit erschöpfen sich auch allmählich die Kapazitäten der Ersatzteillager in Wörth und Sindelfingen. Konsequenz daraus: Der Ersatzteilservice wandert samt und sonders in ein neues zentrales Ersatzteillager, das sich in Germersheim unweit von Wörth befindet und 1989 in Betrieb geht.
Fertigung flexibel wie nie zuvor
Auch die Fertigung selbst ändert ihr Gepräge grundlegend. Klassische Automatisierungskonzepte sind nicht mehr geeignet, die zunehmend komplexen Aufgaben (ständig wachsende Varianten und schwankende Stückzahlen) zu meistern. Unter der Losung "Rohbau 2000" entsteht 1992 eine integrationsfähige Gesamtanlage, in der alle Fahrerhaustypen geschweißt werden können. Die Idee einer flexiblen Rohbauanlage ist geboren.
Auch der Fahrerhaus-Innenausbau erweist sich als optimierungsfähig. Verbesserte Fertigungsabläufe und optimierter Materialfluss kennzeichnen den neu organisierten Bereich, wie er im Jahr 1995 die Arbeit effektiver und flexibler denn je aufnimmt.
Umstellung auf Actros-Produktion geschieht in Rekordzeit
Somit sind beste Voraussetzungen für den Start des neuen Schwer-Lkw Actros geschaffen, der ab 1996 das Erbe des SK antritt. Die Umstellung des Werks auf die Produktion dieses von Grund auf neu konstruierten Schwer-Lkw geschieht in bisher noch nie dagewesener Rekordzeit. Und damit nicht genug: 1997 folgt die Umstellung der Reihen LK und MK auf die neuen Leichten und Mittleren der Atego-Reihe, ab 1998 gesellt sich der Atego schwer als Kombination von Actros-Fahrgestell und Atego-Kabine noch hinzu.
Wörth fertigt zudem ab dem Jahr 2002 den neuen Schwer-Lkw Axor, der als besonders nutzlaststarker Lkw für mittleren Fernverkehr sowie schweren Verteilerverkehr konzipiert ist. Darüber hinaus zieht die Produktion des Unimog im August 2002 von Gaggenau nach Wörth um, das sich zugleich auf den Serienstart der zweiten Generation des Actros (ab Januar 2003) vorbereitet und im gleichen Jahr noch die Produktion des Kommunalspezialisten Econic übernimmt.
So kommt es, dass derzeit im mittlerweile auf 2,3 Millionen Quadratkilometer erweiterten Werk Wörth mit mehr als 13.000 Mitarbeitern jährlich rund 87.000 komplett montierte Lkw vom Band rollen. Zusammen mit gut 11.000 CKD-Sätzen und knapp 2.000 Produktionsteilesätzen resultiert daraus eine Jahresproduktion von mehr als 100.000 Lkw, die auf insgesamt 279 verschiedenen Baumustern basieren. 4.250 Tonnen Material werden dem Werk dafür tagtäglich zugeliefert. Im Durchschnitt sind es 550 Lkw pro Tag, die Wörth zum Löschen ihrer Ladung ansteuern. Bei 70 dieser Lkw handelt es sich um solche, die in Just-in-Time-Verkehren unterwegs sind.
Attraktive Angebote rund um den Lkw
Doch zieht es nicht nur Lieferanten in Europas größtes Lkw-Werk. Fast 35.000 Besucher nahmen 2004 an Werksführungen teil. Und noch mehr Besucher steuerten das so genannte Kundencenter an, um ihren neuen Lkw dort abzuholen. Aus der "Kundenselbstabholerhalle" von einst hat sich längst ein modernes Kundencenter entwickelt, in dem Selbstabholer nicht nur ihren neuen Lkw abholen können, sondern auch in die Grundlagen der Technik eingewiesen werden. Immerhin 37.507 Abholer nutzten diesen Service im Jahr 2004.
Zum weiteren Angebot dieses Treffpunkts für Fahrer und Besucher gehören schon längst auch spezielle Lkw-Seminare und Fahrerschulungen. Sicheres und wirtschaftliches Fahren bilden dabei in aller Regel die Kernthemen, doch gibt es auch spezielle branchenspezifische Unterweisungen.
Weltweit einzigartig: das Branchen-Informations-Center
Ganz den einzelnen Branchen gewidmet ist schließlich das im Jahr 2000 eröffnete Branchen-Informations-Center (BIC), das als weltweit einzige Institution dieser Art dem Kunden nicht nur fundierte Beratung bietet, sondern auch den direkten Vergleich zahlreicher Branchen-Komplettlösungen direkt vor Ort erlaubt. Mehr als 90 verschiedene Actros, Atego, Axor und Econic mit kompletten Aufbauten stehen hier parat, um verglichen und Probe gefahren zu werden.