Plötzlich taucht auf der Fahrbahn das Hindernis auf: Mit ruckartigen Lenkbewegungen will die Fahrerin ausweichen, ohne Erfolg - der Wagen bricht aus. Doch zum Glück für Anne von Vietinghoff ist das alles nur ein Test. Geduldig erklärt ihr der Fahrtrainer, was sie beim Fahrsicherheitstraining auf dem
Volkswagen Testgelände in Ehra-Lessien bei Wolfsburg falsch gemacht hat. "Ich hab zu stark gelenkt", bekennt die 25-Jährige selbstkritisch. Das Training ist Bestandteil des Hauptpreises beim Woman Driving Award, der erstmalig von
Volkswagen bundesweit ausgeschrieben wurde.
Der Preis richtet sich an Ingenieurinnen, die in ihren Diplomarbeiten ein für die Automobilbranche relevantes Thema behandelt haben. Eine Fachjury aus Volkswagen-Experten und Professoren wählte aus den 30 Einsendungen die innovativsten Arbeiten aus. Augenfällig war das hohe Niveau: Die Durchschnittsnote der Diplomarbeiten aller Teilnehmerinnen lag bei 1,2 - die der Finalistinnen sogar bei 1,0. Für die Jury lieferte dabei Anne von Vietinghoff die beste Arbeit ab. Der Titel "Beobachterstrategien zur Beschreibung der Kraftfahrzeug-Querdynamik" mutet zunächst etwas komplex an, ist in der Praxis aber durchaus verständlich und etwa beim Fahrsicherheitstraining am eigenen Leib zu spüren: Bricht ein Fahrzeug zum Beispiel bei einem Ausweichmanöver aus, liegt dies an physikalischen Größen und Kräften.
Anne von Vietinghoff beschäftigte sich als Elektrotechnikerin mit dem so genannten "Schwimmwinkel", der abweichendes Fahrverhalten misst: Je höher der Schwimmwinkel liegt, desto eher bricht der Wagen aus. Ein Stabilitäts-Programm wie ESP verhindert dies. "Es ist das Ziel, ESP weiter zu verbessern. Mich hat an der Thematik vor allem die theoretische Herangehensweise an ein praktisches Problem interessiert", so Anne von Vietinghoff. Die Jury hob ihre Arbeit als besonders "innovativ" hervor. Sie zeige "gemeinsam mit den anderen herausragenden Ingenieurinnen deutlich, dass technische Berufe keine Männerdomäne sein müssen", lobte Prof. Dr. Wilfried Bockelmann, Schirmherr des Wettbewerbs und Mitglied des Markenvorstands von Volkswagen.
Doch auf den Lorbeeren will sich Anne von Vietinghoff nicht ausruhen. Die begeisterte Hobby-Sportlerin - beim Radfahren, Joggen und Schwimmen findet sie den nötigen Ausgleich - möchte an der Universität Karlsruhe darüber hinaus noch promovieren. Dass sie sich dabei weiter in einer Männerwelt durchsetzen muss, stört sie nicht: "Als Einzelkämpferin habe ich mich nie gefühlt, bin immer anständig von meinen männlichen Kommilitonen behandelt worden. Ich kann Frauen nur raten, Vorurteile nicht überzubewerten. In Sachen technischer Beruf einfach mal machen und ausprobieren - das hat mich vorangebracht."
"Es ist unser Ziel, Frauen noch mehr in den Produktentstehungsprozess einzubinden, ihnen zu ermöglichen, sich verstärkt der HerausForderung Technik anzunehmen und ihre Sichtweise einzubringen", sagt Sabine Schönberg Leiterin Career-Development bei Volkswagen. Sie hat mit ihrem Team den Woman Driving Award entwickelt, der 2005 seine zweite Auflage erlebt. Arbeiten wie die von Anne von Vietinghoff seien dabei ein Paradebeispiel, so Schönberg.
Ein Beispiel hat sich Anne von Vietinghoff vor allem am eigenen Vater genommen. Der ist ebenfalls Ingenieur und hat das Fachwissen wohl auf die Tochter vererbt, denn die zwei großen Brüder haben keinen technischen Beruf ergriffen. Kurios ist, dass Anne von Vietinghoff überhaupt ihre Diplomarbeit über ein Automobilthema geschrieben hat, denn die leidenschaftliche Fahrradfahrerin hat noch nie ein Auto besessen. Doch anders als beim spannenden Fahrsicherheitstraining hat Anne von Vietinghoff bewiesen, dass man sie auf ihrem Fachgebiet und beim Woman Driving Award nicht so leicht ins Schleudern bringt.