Elektronische Systeme wie Notbremsassistent, Abstandsregelung und Spurassistent besitzen auch bei Nutzfahrzeugen ein hohes Potenzial, die Verkehrssicherheit weiter zu erhöhen. "Hier liegt das größte Sicherheitspotenzial für die Zukunft", sagte F. Alexander Berg, Unfallforscher bei der DEKRA Automobil GmbH. Doch aus Kostengründen verläuft die Verbreitung der elektronischen Helfer nach wie vor sehr schleppend. Deshalb haben Experten beim 5. internationalen DEKRA/VDI Symposium zur Sicherheit von Nutzfahrzeugen in Neumünster (Schleswig Holstein) finanzielle Anreize für Investitionen in modernste Sicher-heitstechnik dringend angemahnt.
Als Beispiel, wie Anreize für die Anschaffung von Sicherheitstechnik aussehen kann, nannte Werner von Hebel, Geschäftsführer der DEKRA Automobil GmbH, das Projekt "Safety Plus Truck", eine Initiative von DEKRA, DaimlerChrysler und der Allianz Versicherung. "Hierdurch sollen bei schweren Sattelzügen durch den Einsatz modernster Fahrzeugtechnik und elektronischer Assistenzsysteme die Anzahl und die Folgen von Unfällen deutlich reduziert werden", sagte von Hebel. "Für die Transportunternehmen werden Anreize durch günstige Sonderausstattungspakete und attraktive Sicherheitskonditionen geschaffen."
Anreize für moderne Sicherheitstechnik
Weitere zentrale Themen des von DEKRA und der VDI Gesellschaft Fahrzeug- und Verkehrstechnik ausgerichteten Symposiums am 12. und 13. Oktober 2006 waren neue Entwicklungen der Nutzfahrzeugsicherheit, innovative Transportkonzepte und die Sicherheit schwächerer Verkehrsteilnehmer. 20 Fachvorträge gaben den rund 140 Besuchern aus 12 europäischen Ländern sowie Australien, Japan, Kanada und USA einen Einblick in neueste Erkenntnisse und Forschungsprojekte. Auf dem Programm standen außerdem eine Nutzfahrzeug-Ausstellung, ein Crashversuch und eine Rettungs-Demonstration mit einem Transporter im DEKRA Crash Test Center.
Erstmals im Rahmen dieser Tagung wurde der Europäische Sicherheitspreis Nutzfahrzeuge vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat, der Europäischen Vereinigung für Unfallforschung und Unfallanalyse (EVU) und DEKRA vergeben. Die Auszeichnung ging an den japanischen Forscher Dr.-Ing. Fujio Momiyama, Direktor der HORIKIRI Inc.. EVU-Präsident Prof. Dr. Egon-Christian von Glasner würdigte Dr. Momiyamas Leistungen auf dem Gebiet der Nutzfahrzeugsicherheit.
DEKRA bietet Unterstützung für Großversuch mit Euro Combi an
Werner von Hebel wies auf neueste Prognosen hin, wonach in Deutschland bei weiter steigendem Güterverkehrsaufkommen auch im Jahr 2035 der Transport auf der Straße noch einen Anteil von 70 Prozent an der gesamten Transportleistung haben wird. "Diesem Szenario müssen wir uns stellen und Antworten finden, wie wir mehr Transport ohne mehr Verkehr und ohne zusätzliche Belastung der Umwelt wirtschaftlich und sicher gestalten wollen", sagte von Hebel. Dabei müsse die Verkehrssicherheit nach wie vor oberste Priorität haben. Um weitere Erkenntnisse zu gewinnen, bietet DEKRA seine Unterstützung bei einem bundesweiten Großversuch mit dem "Euro Combi" an.
Vor dem Hintergrund, dass bis zum Jahr 2015 in Deutschland fünf Lastwagen fahren werden, wo 1997 drei unterwegs waren, diskutierte die Session "Nutzfahrzeugverkehr" unter der Leitung von Dr. Ludwig Vollrath, VDI, das "Europäische Modulare System" (EMS). Dessen bis zu 25,25 Meter langen und 60 Tonnen schweren Züge fahren in Schweden und Finnland bereits seit 1995, in Holland läuft seit 2000 ein Praxisversuch. Mit 30 bis 40 Prozent mehr Volumen und bis zu 60 Prozent mehr Nutzlast können zwei EMS-Züge drei konventionelle Kombinationen ersetzen. Die Befürworter erwarten, dass die Zahl der Lkw-Fahrten, die Kilometerleistung und der CO2-Ausstoß um 8 bis 14 Prozent sinken. Die potenziell von den Europäischen Road Trains ausgehenden Gefahren lassen sich, so Lars Riebeck, MAN Nutzfahrzeuge, durch Ausnutzen der verfügbaren Sicherheitstechnik und Schulung der Fahrer vermeiden.
Mit Unfällen zwischen schweren Lkw und ungeschützten Verkehrsteilnehmern, wie Fuß-gängern und Zweiradfahrern, befasste sich die Session "Ungeschützte Verkehrsteilnehmer" unter der Leitung von Hidehiko Enomoto, Hino Motors Ltd., Japan. Nach Ergebnissen des EU-Projektes APROSYS zeichnen sich radfahrer- und fußgängerfreundliche Lkw durch niedriger angebrachte, energieabsorbierende Stoßfänger, konvexe Fronten und das Vermeiden starrer Teile wie Treppen und Griffe aus. Die Unfallanalyse Berlin stellte fest, dass selbst moderne Lkw in Bezug auf den Rechtsabbiegeunfall ("Toter Winkel") noch erhebliche Schwachpunkte bei der Sicht aus dem Lkw und beim Überrollschutz aufweisen. Hier könnten aktive Warnsysteme helfen, allerdings sind sie noch nicht serienreif.
Den hohen Nutzen der elektronischen Assistenten bei schweren Trucks, Bussen und Transportern weist eine Analyse realer Unfälle durch das Allianz Zentrum für Technik nach, die in der Session "Assistenzsysteme" unter der Leitung von Dr. Heinz-Dieter Adomeit, DELPHY Deutschland, vorgestellt wurde. Durch die flächendeckende Ausrüstung von Nutzfahrzeugen mit dem elektronischen Stabilitätsprogramm ESP könnten bis zu acht Prozent der schweren Unfälle mit Personenschaden vermieden oder zumindest die Unfallfolgen gemildert werden. Beim abstandsgeregelten Tempomat (ACC) beträgt dieser Anteil bis zu 7 Prozent, beim Spurverlassenswarner (LGS) bis zu 4 Prozent.
Neue Lkw-Front verbessert Partnerschutz
Die Session "Kompatibilität" unter der Leitung von Claes Avedahl, Volvo Truck Corporation, Göteborg, befasste sich mit Ansätzen für den Partnerschutz des Lkw bei Kollisionen mit Pkw sowie mit Fußgängern. Eine neue Lkw-Front kombiniert energieabsorbierendes Material mit einem Pkw-Abweiser und macht so Aufprallgeschwindigkeiten bis 64 km/h überlebbar. An der Universität Bolton, England, wird an einem Aggressivitätsindex geforscht, der Konstrukteuren helfen soll, die Gefahren durch die Fahrzeugkontur besser zu beurteilen. Busse gelten als die sichersten Transportmittel, dennoch können seitliche Aufprallplatten und energieschluckende Überrollbügel für mehr Sicherheit bei Unfällen sorgen, zeigten Crashtests der Volvo Bus Corporation. Ein von der DEKRA Unfallforschung auf Busunfälle angewandtes Unfallschema erleichtert eine zielgerichtete Weiterentwicklung der Bussicherheit und den Vergleich von Unfallschwerpunkten.
Fortschritte sind auch bei den leichten und schnellen Transportern zu verzeichnen. Unter der Leitung von Prof. Dr. Hartmut Marwitz, DaimlerChrysler AG, wurden in der Session "Transportersicherheit" sowohl Erkenntnisse aus dem Unfallgeschehen dieser Fahrzeugklasse als auch konkrete Ansätze für weitere Verbesserungen berichtet. Daneben wurde anhand eines Frontalaufpralltests mit dem Mercedes-Benz Sprinter gezeigt, welch hohen Stand die passive Sicherheit beim Transporter heute erreicht hat. Dem Thema Insassenrettung widmet sich der weltweit erste Rettungsleitfaden für Transporter, der, wie im Versuch gezeigt wurde, auch auf Fahrzeuge anderer Marken anwendbar ist.