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Audi auf streng geheimen Erprobungen in LapplandIn Nordschweden herrschen perfekte Bedingungen für Audi, um neue Modelle unter extremen klimatischen Bedingungen abzustimmen. Entwickler Raphael Kis gewährt seltene Einblicke in das abgeriegelte Testgelände und die Arbeitsabläufe im hohen Norden. Der Schnee knirscht unter seinen Schuhen, als Raphael Kis auf die Straße vor dem Hotel tritt und eine der ersten Fußspuren hinterlässt. Es ist knackig kalt, das Thermometer zeigt an diesem Januarmorgen minus 21 Grad. Vor dem Hotel ist das Brummen der Räumfahrzeuge zu hören, die nur wenige hundert Meter entfernt den Neuschnee vom zugefrorenen See schieben und die Teststrecken präparieren. Raphael Kis hat sich seine schwarze Wollmütze tief ins Gesicht gezogen und stapft durch die schwedische Finsternis in Richtung Werkstatt. Die Wege sind kurz: „Man fällt sozusagen vom Hotel direkt in die Werkstatt“, sagt Kis. Es ist 7 Uhr – Arbeitsbeginn für den Familienvater, der bei Audi als Applikateur für die Abstimmung von Fahreigenschaften wie Fahrstabilität und Traktion zuständig ist. Abgeriegelt von der AußenweltDie Werkstatt befindet sich auf dem weitläufigen Prüfgelände des Volkswagen Konzerns in Schweden – aus Gründen der Geheimhaltung schlicht als „KALT 1“ bezeichnet. Zäune riegeln das Areal in Lappland hermetisch ab, alles ist streng vertraulich. Denn hier stimmt Audi seine zukünftigen Modelle auf Eis und Schnee ab. Insgesamt erstreckt sich das Testmekka über 3.600 Hektar – etwa 1,7-mal so groß wie die Fläche des Frankfurter Flughafens. Neben mehreren Werkstätten mit Büroarbeitsplätzen und einem Hotel mit 440 Betten bietet das Gelände winterliche Strecken mit insgesamt 83 Kilometern Länge. Die nächstgrößere Stadt befindet sich mehrere Kilometer entfernt, selbst der nächste Supermarkt ist fußläufig nicht mal eben so erreichbar. Die durchschnittlich rund 150 Mitarbeitenden, die allein für Audi vor Ort sind, sind dennoch bestens versorgt. Im Rundum-sorglos-Paket inbegriffen: drei Mahlzeiten im Hotelrestaurant, zwei Fitnessräume, eine Hotelbar. „Wir sind mit vielen Menschen zusammen − das muss man mögen. Wer keine Lust darauf hat, hält das nicht lange durch.“ Raphael Kis ist schon seit 14 Jahren dabei, rund 20 Wochen pro Jahr, davon etwa zehn Wochen in Schweden. Feintuning im schwedischen WinterAn diesem Morgen sitzt Kis im Büro einer Werkstatt und bereitet sich auf die Feinabstimmung an einem neuen Audi Modell vor. Als sein Sohn noch kleiner war, erklärte er ihm seinen Job einmal so: „Papa sitzt im Auto und stellt es so ein, dass die Menschen damit sicher fahren können.“ Ganz so einfach ist es freilich nicht – und mit einem Vorurteil räumt Kis gleich einmal auf: „Ich fahre nicht den ganzen Tag im Kreis, wie man sich das vielleicht vorstellt“, sagt er und schmunzelt. So muss zwischendurch neue Software auf das Auto gespielt werden, mitunter müssen Expert_innen auch die Hardware anpassen. Die Abstimmung eines Fahrzeugs dauert länger als ein Jahr, in der Regel eineinhalb Winter: Die Basis legen Kis und seine Kolleg_innen im Idealfall auf trockener Straße, um das Grundfahrverhalten einzustellen. Danach folgen Testfahrten auf nasser Fahrbahn, bevor es Ende November zum ersten Mal in den schwedischen Winter geht. Am Ende soll das Auto sowohl auf trockener und nasser Fahrbahn als auch auf Eis und Schnee harmonisch fahren. „ABS, ASR und Fahrdynamikregelung müssen der Audi DNA entsprechen“, erklärt Kis. Unter seiner DNA versteht der Automobilkonzern bestimmte Kriterien, die das unverwechselbare Fahrverhalten eines Audi prägen. Im Februar stehen Abstimmungen im trockenen Spanien auf der Agenda, um wiederum in Schweden „gegenzufahren“, wie Kis sagt. „Es ist ein ständiges Wechselspiel.“ So wird das Fahrverhalten der neuen Audi Modelle über das Jahr hinweg auch auf Bergstrecken und Pässen verfeinert. „Die unterschiedlichen Streckenprofile sollen immer möglichst kundennah sein.“ Im Winter darauf nimmt sich der Fahrwerkexperte das abschließende Feintuning vor. Einstellungen am LaptopVor dem Fenster rieseln noch immer dicke Schneeflocken vom Himmel, die vom Licht der Werkstatt angestrahlt werden. „Dezember und Januar sind in Schweden die dunklen Monate – das ist schon etwas zäh“, sagt der Entwickler. An diesem Tag geht die Sonne erst um 9 Uhr auf und um 14 Uhr schon wieder unter. Februar und März sind laut Kis die schönen Monate im nordischen Königreich. Dann verwandeln Sonne und blauer Himmel das Testgelände bisweilen in eine zauberhafte Winterlandschaft. „Aber man gewöhnt sich auch an die Dunkelheit. Mithilfe von Dachscheinwerfern lassen sich alle Strecken gut ausleuchten“, sagt Kis, klemmt seinen Laptop unter den Arm und schnappt sich den Autoschlüssel vom Schreibtisch. Wenige Augenblicke später sitzt der Laptop fest in der Halterung auf dem Beifahrersitz im mit Tarnfolie beklebten Auto. Am Computer lassen sich verschiedene Parameter ändern, um den Zieleigenschaften Stück für Stück näher zu kommen. Der Audi soll leicht zu beherrschen sein – auch im Grenzbereich. Alle Regelsysteme müssen auf die jeweiligen Fahrbedingungen verlässlich reagieren. Und die überlegene Traktion gilt ebenfalls als typische Fahreigenschaft eines Audi. Die Abstimmungen haben sich – trotz Elektroautos – im Laufe der Jahre im Wesentlichen nicht verändert. Routinierte Fahrten auf dickem EisKisʼ nächste Station auf dem Prüfgelände ist eine Strecke auf dem zugefrorenen See − rund drei Kilometer lang, dank gespeicherter GPS-Daten jedes Jahr mit den gleichen Kurven. Neben der Strecke türmen sich die Schneemassen auf, die am frühen Morgen weggeräumt wurden. Die Nadelbäume am Ufer ächzen unter der Last des Schnees und lassen die Äste hängen. Wie reagiert der Audi auf der vereisten Fahrbahn? Kis drückt aufs Fahrpedal und das Auto nimmt Kurs auf die erste Linkskurve. Der Audi driftet durch die Kurve und wirbelt den Schneestaub gut zwei Meter hoch in die eisige Luft. „Das sind die Momente, in denen der Job besonders Spaß macht“, sagt Kis. Der Fahrverhalten-Spezialist steuert den Wagen einige Male routiniert über den Kurs, bis er genügend Informationen gesammelt hat. Angst, dass die Eisschicht das Fahrzeug nicht trägt, muss er nicht haben. Zu Beginn der Saison kontrolliert das Team das Eis mit einem Schneemobil und misst die Dicke. Mindestens 25 bis 30 Zentimeter müssen es sein, um darauf mit einem Auto fahren zu können. Wenn das Eis noch zu dünn ist, schieben Luftkissenboote den Schnee immer wieder von der Eisfläche. Da der Schnee eine isolierende Wirkung hat, würde das Eis andernfalls weniger schnell wachsen. So aber entsteht eine Schicht, die bis zu 90 Zentimeter dick wird. Analyse der MessergebnisseZurück in der Werkstatt. Nach dem Mittagessen im Hotelrestaurant steht die Analyse der Messergebnisse mit Funktionsentwickler_innen und Systempartner_innen an. Eine gewisse persönliche Handschrift bei der Abstimmung sei zwar erkennbar, doch die Zieleigenschaften eines Modells bespricht Kis vorab mit der Leitung des Entwicklungsteams und weiteren Kolleg_innen. Die Meinungen weichen dabei höchstens in Nuancen voneinander ab. „Es kommt vor, dass jemand der Ansicht ist, dass das Fahrzeug zum Beispiel einen Tick mehr übersteuern sollte“, sagt Kis. „Alles in allem haben wir aber so ziemlich die gleiche Vorstellung davon, wie das Auto am Ende fahren soll.“ Auf dem Prüfgelände ist längst wieder die Dunkelheit hereingebrochen, als Kis sich seine Jacke von der Stuhllehne greift und die Mütze überstreift. Feierabend nach einem zehnstündigen Arbeitstag. „Abendessen, ein Plausch mit den Kolleg_innen und ein Videoanruf nach Hause – morgen geht’s weiter“, sagt Kis und verschwindet im grellen Licht der Hoteleingangshalle. |
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